Im letzten Jahr konnte ich beobachten, dass sich messbar konstante Werte wie Entfernungen oder Zeit in meiner Wahrnehmung stark veränderten. Wie unterschiedlich lang sich eine Zeitspanne anfühlen kann, ist uns aus dem Alltag bewusst. Doch auch das Empfinden von Entfernungen hat sich bei mir verändert. Seit 16 Jahren lebe ich in der Schweiz. Meine Familie, die in Wien wohnt, empfand ich immer als relativ nahe und stets erreichbar, ich besuchte sie oft. Die Pandemie im letzten Jahr veränderte dieses Gefühl grundlegend. Plötzlich war Wien weit weg, zeitweise unerreichbar, obwohl es natürlich weiterhin die gleichen 592.45 km Luftlinie entfernt blieb.
Ähnlich geht es mir als kirchliche Mitarbeiterin mit Rom: 685,17 km Luftlinie – manchmal ist es weit entfernt und dann kommt es plötzlich wieder ganz nah. In den letzten Wochen gingen mir Botschaften aus Rom sehr nahe und fühlten sich zugleich sehr entfernt an. Im Hin und Her zwischen Enttäuschung, Unverständnis und Resignation, hat mir eine Botschaft ausgerechnet wieder aus Rom neue Hoffnung gegeben. In seiner Predigt zur Osternacht streicht Papst Franziskus drei österliche Botschaften hervor, die er aus den Worten des Osterevangeliums ableitet, dass Jesus nach Galiläa vorausgeht:
- Es ist immer möglich, neu anzufangen. Der Auferstandene sagt: „Lasst uns wieder dort anfangen, wo alles begann. Ich will euch wieder neu bei mir haben, trotz all eures Scheiterns“. In diesem Galiläa lernen wir das Staunen über die unendliche Liebe des Herrn, der neue Wege aufzeigt dort, wo wir versagt haben.
- Der Glaube ist keine Antiquitätensammlung. Er eröffnet neue Wege, wo du meinst, es gäbe keine, er bringt dich dazu, dagegen anzukämpfen, dem Vergangenem nachzuweinen. Nach Galiläa gehen bedeutet auch, an die Grenzen zu gehen.
- Jesus liebt uns uneingeschränkt in jeder Lebenslage. Er lädt uns ein, Barrieren zu überwinden, Vorurteile abzubauen, auf die Menschen um uns herum zuzugehen.
Ich will mir nicht die Rosinen aus dem Kuchen picken und doch will ich mir diese Botschaft stärker zu Herzen nehmen als manch ausgrenzende Ansichten, denn der Geist dieser Predigt erinnert mich so stark an den Geist, der für mich in Jesu Worten liegt.
Ja, beginnen wir immer wieder neu, ohne das Alte unter den Teppich zu kehren. Beginnen wir vor unserer eigenen Tür, in unserer Kirche. Lassen wir sie nicht zu einer Antiquitätensammlung verkommen, bauen wir Vorurteile und Barrieren ab und verkünden wir die uneingeschränkte Liebe Jesu.
Ist das ein theoretischer, unrealistischer Gedanke? Nein! Immer wieder wurde und werde ich Zeuge davon, wie mutig und kräftig sich Menschen in der Kirche für diese Botschaft einsetzen. Es bewegte mich im letzten Jahr oft, mit wieviel Herzblut und Einsatz Pfarreien neue Wege in der Pastoral finden konnten. Man könnte aufgrund der Pandemie das Angebot der Kirche herunterfahren, die Türen schliessen und sagen, dass nun halt nichts mehr möglich ist. Oder man erkennt, dass Kirche ganz besonders in Zeiten der Krise einen Auftrag hat und manchmal einfach neue Wege finden muss. Ich danke allen, die mir in ihrer Kreativität ein Vorbild darin waren, in diesen Zeiten für Menschen als Kirche da zu sein.
Dankbar bin ich auch, dass ich ein mutiges Zeugnis der Erneuerung letzten Samstag in der Osternacht erleben durfte. Ein Gottesdienst, bei dem Frauen wie Männer gleichermassen beteten und segneten. Eine lebendig gestaltete Liturgie. Was mir gleich auffiel: ganz ohne Priester. Eine gelebte Gemeinschaft, die unter Krisen und Priestermangel nicht aufgibt, miteinander ihren Glauben zu feiern und Kirche zu leben – und Jesus «mittendrin, nicht nur dabei».
Gesegnete Ostern!
Gesegnete Neuanfänge, wo es Altes zu überwinden gibt, denn unsere Kirche ist mehr als eine Antiquitätensammlung!
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